Was ist Ostern? Was antworten Sie einem Nichtchristen, einem Kind, das wissen will, was Ostern bedeutet? Osterferien, Osterhase, Ostereier, Osterspaziergang, Osterausflug, Osterhalleluja, Auferstehung, Erlösung, Osterkerzen, Ostergräber, Osterspeisen?
Ich möchte heute Ostern darstellen als eine Symphonie der Auferstehung. Ein chinesischer Künstler hat aus Eisen auf großartige Weise ein Orchester geschaffen; Sie finden es im Liedblatt abgedruckt. Seine Werke sind immer „work in progress“; es ist der unvollendete Aspekt, der fragmentarische. Die Symphonie der Auferstehung ist noch im Entstehen, sie wartet auf Vollendung. Und die Instrumente: Sie kommen von überall her – vom Osten und vom Westen. Es ist also ein universales Orchester, das die österliche Symphonie spielt für die ganze Welt.
Wie die meisten Symphonien – vor allem die der Romantik – hat auch diese Ostersymphonie ein Thema, ein Motiv, das man in jedem der Sätze heraushören kann in verschiedenen Tempi und Variationen. Es ist eine verbindende Melodie, die immer wieder vorkommt, jenes Motiv, das den lehrenden, den agierenden, den verratenen, den angeklagten, gefolterten und sterbenden Christus genau so bewegt, wie den, der souverän durch die Türe und Riegel der Ängste schreitet oder im Morgennebel am Seeufer auf seine Jünger wartet, um sie zum Mahl einzuladen. Es gibt diese Kennmelodie des Welterlösers.
Es ist die Weise von der Barmherzigkeit.
Dieses Motiv ist aufgeklungen, als der Herr das Gleichnis vom barmherzigen Samariter erzählte. Der Grundton von der Barmherzigkeit bestimmt auch das schönste Gleichnis des Neuen Testamentes, das vom barmherzigen Vater bzw. vom verlorenen Sohn, das die Geschichte der Menschheit umfasst, die deine und die meine. In vielen Gesprächen, in den Reden, in den Wundern und Heilungen Jesu klingt dieses Motiv der Barmherzigkeit auf.
Und es klingt auf im Heute, wenn Menschen Barmherzigkeit zeigen, Empathie, Kompassion (compassion), wie wir das Wort Barmherzigkeit auch heute verwenden: Barmherzigkeit gegenüber einem lästigen und unfreundlichen Nachbarn, Barmherzigkeit gegenüber Armen, Flüchtlingen, Menschen in materieller und seelischer Not.
Dieses Leitmotiv der Ostersymphonie darf nicht überhört werden. Im Gegenteil: die Symphonie des Auferstandenen muss durch die Epochen und Kulturen weitergespielt werden. Wehe, wenn sie verlorengeht, nicht mehr gehört wird. Leider Gottes haben sich im Laufe der Geschichte die Menschen in den Tasten und Saiten vergriffen, haben nicht aufeinander gehört, haben falsche Töne gespielt. Ja, sogar die Partitur scheint verschwunden zu sein.
Das hinter uns liegende 20. Jahrhundert war in vieler Hinsicht ein fürchterliches Jahrhundert. Auch das noch junge 21. Jahrhundert, das am 11. September 2001 mit dem Terroranschlag auf das World Trade Center in New York mit einem wenig gutes versprechenden Paukenschlag begonnen hat, verspricht bisher nicht besser zu werden. Im 20. Jahrhundert waren es zwei brutale totalitäre Systeme, zwei Weltkriege mit 50 bis 70 Millionen Toten allein im Zweiten Weltkrieg sowie millionenfache Völker- und Massenmorde, Konzentrationslager und Gulags. Im 21. Jahrhundert sind es die Bedrohung durch einen gnadenlosen Terrorismus, himmelschreiende Ungerechtigkeit, missbrauchte und verhungernde Kinder, Millionen Menschen auf der Flucht, zunehmende Christenverfolgungen, dazu verheerende Naturkatastrophen in Form von Erdbeben, Vulkanausbrüchen, Tsunamis, Überschwemmungen, Dürrekatastrophen. Das alles und vieles andere sind „Zeichen der Zeit“.
Angesichts dieser Situation fällt es vielen schwer von einem allmächtigen und zugleich barmherzigen Gott zu reden. Wo war er und wo ist er, wenn all das geschah und geschieht? Warum lässt er all das zu? Warum greift er nicht ein? Ist nicht – so wird gefragt – all das ungerechte Leiden das stärkste Argument gegen einen Gott, der doch allmächtig und barmherzig sei? Tatsächlich wurde das unschuldige Leiden in der Neuzeit vielen zum Anlass, Atheisten zu werden. Selbst Christen befinden sich oft in einer dunklen Nacht des Glaubens, in der es ihnen die Sprache verschlägt angesichts des unendlichen Leids und des ungerechten Leidens in der Welt.
Fjodor Michailowitsch Dostojewski, der im eigenen Leben wie bei anderen viel Leid erfahren hat, schreibt in seinem Roman „Die Brüder Karamasow“ von einem Kind, das ein Gutsherr vor den Augen seiner Mutter von einer Meute seiner Hunde zerreißen lässt. Ein solch himmelschreiendes Unrecht und Leiden eines Kindes kann durch keine künftige Harmonie aufgewogen werden, so Dostojewski. Darum gäbe er sein Eintrittsbillet zum Himmel zurück.
Die Frage nach dem Warum des Leidens lässt also viele Menschen verstummen und sprachlos werden. Viele nachdenkliche Menschen spüren den Ernst der Situation und machen sich neu auf die Suche. Sie spüren, dass ohne die Sinnfrage dies letztlich die Abdankung des Menschen als Mensch bedeutet. Selbst ein Philosoph wie Nietzsche, der die Botschaft verbreitet hat, dass Gott tot sei, er wusste, dass der fehlende Glaube an den Sinn des Lebens, der fehlende Glaube an einen persönlichen Gott nur Leere hinterlässt und unendliche Kälte. Ohne Gott sind wir vollends und ausweglos den Schicksalen und Zufällen der Welt und den Drangsalen der Geschichte ausgeliefert. Somit ist der fehlende Glaube die eigentliche und tiefste Not des Menschen von heute.
Deshalb liegt es an uns Christen, die Melodie von einem barmherzigen Gott wieder zu spielen: Vom gnädigen Gott „der reich ist an Erbarmen“ (Eph 2,4), „der uns tröstet, damit auch wir andere trösten können“ (2 Kor 1,3f.). Denn angesichts des Teufelskreises des Bösen kann es eine Hoffnung auf einen Neuanfang nur geben, wenn wir auf einen barmherzigen und zugleich allmächtigen Gott hoffen können, der allein einen neuen Anfang setzen kann und uns Mut zu einer Hoffnung gegen alle Hoffnung schenken kann.
Liebe österliche Gemeinde,
lasst uns also mit großem Jubel die Ostersymphonie spielen, die Symphonie mit dem Motiv der Barmherzigkeit – ganz besonders auch im Hinblick auf das kommende „Heilige Jahr 2016“, das Papst Franziskus nächsten Sonntag, dem Barmherzigkeitssonntag, ausrufen wird, das „Jubiläum der Barmherzigkeit“. Im letzten Satz dieser österlichen Symphonie können wir dann gleichsam wie bei einem Schlusschor den Psalm 89,2 anstimmen: „Misericordias Domini in aeternum cantabo“ – „Die Barmherzigkeit des Herrn will ich in Ewigkeit singen“. Amen. Halleluja.